Interviewpartner Nils Tißen

Interviewpartner Nils Tißen – Experte für Selbstorganisation

Selbstorganisation ist nicht immer leicht. Vor allem, wer dezentral und nicht immer in Nähe des eigenen Teams arbeitet, hat mit dem Thema zu tun. Wie Coworking Spaces zum selbstorganisierten Arbeiten beitragen können, weiß Nils Tißen von Me & Company. Die agile Innovationsberatung legt ihren Fokus auf neue Formen der Zusammenarbeit und Business Innovation. Im Zuge der Corona-Pandemie hat sich die Zusammenarbeit verändert und es gibt immer mehr verteilte Teams. Und so beschäftigt sich Me & Company fortlaufend mit dezentraler Teamarbeit, Selbstorganisation und der Veränderung von Zusammenarbeit in diesem Zusammenhang. Nils Tißen ist einer der beiden Gründer. Als Agile Organisation Designer arbeitet er mit Unternehmen wie edding, Pernod-Ricard und VR Payment. Zudem doziert er an der Hochschule Düsseldorf. Im Interview erzählt er mehr über die Selbstorganisation im Coworking Space.

Welche Trends in Hinblick auf Zusammenarbeit beobachtet ihr in Euren Mandaten?

Gerade seit der Corona-Pandemie hat sich die Zusammenarbeit grundlegend verändert. Dezentrales Arbeiten ist aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Schon vor dem Lockdown starteten Unternehmen wie BMW, Lufthansa und Siemens Desk-Sharing in ihren Büros. Sie gingen davon aus, dass Team-Mitglieder nicht mehr täglich ins Büro kommen. Die Pandemie hat das Home-Office endgültig etabliert. Heute ist der Remote-Anteil eines Arbeitsplatzes Teil fast jeder Stellenausschreibung. Viele Unternehmen treffen über Homeoffice-Regelungen vertragliche Vereinbarungen mit Ihren Teammitgliedern.

Im Kampf um Talente weiten Unternehmen ihre Suche aus. Neue Mitarbeiter ziehen nicht mehr um, wenn ihr Arbeitsplatz in einer anderen Stadt ist. Sie richten einen Arbeitsplatz zu Hause oder im Coworking Space ein. Die Unternehmen passen sich an, um die richtigen Bewerber für sich zu gewinnen. Sie bieten flexiblere Arbeitsbedingungen, offenere Regelungen zum Arbeitsort und denken die Zusammenarbeit für die Mitarbeiter ganzheitlich neu.

Übergreifend beobachten wir bei unseren Kunden verschiedene Trends in der Zusammenarbeit:

  1. Agile Arbeitsmethoden: Es gibt unzählige agile Methoden, mit denen Teams ihre Zusammenarbeit organisieren können. Viele von ihnen zielen dabei scheinbar auf größere Gruppen und Unternehmen ab. Doch auch Solopreneure oder kleine Teams, wie man sie häufig im Coworking-Umfeld antrifft, können die eigene Arbeit mithilfe einiger Tools und Herangehensweisen effektiver gestalten.
  2. Dezentrale Teams: Die traditionelle Vorstellung von Teams, die ausschließlich im Büro arbeiten, gehört der Vergangenheit an. Heute arbeiten Teams oft in verschiedenen Städten, Ländern und Kontinenten und nutzen Technologien, um trotz räumlicher Distanz effizient zusammenzuarbeiten.
  3. Kollaborative Tools und Plattformen: Tools wie der Messenger-Dienst Slack, das digitale Whiteboard Tool Mural, Videokonferenzsysteme wie Microsoft Teams oder die Zusammenarbeitsplattform Confluence sind aus der modernen Arbeitswelt nicht mehr wegzudenken. Sie fördern die Kommunikation und Zusammenarbeit auch über räumliche Distanzen hinweg.
  4. Flexible Arbeitsmodelle: Unternehmen sind zunehmend bereit, traditionelle Arbeitsmodelle zu überdenken und ihren Beschäftigten Flexibilität in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsort zu bieten, um die Zufriedenheit der Beschäftigten und die Produktivität zu steigern. Unternehmen erkennen verstärkt, dass es nicht nur auf die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden ankommt, sondern auf die Qualität der geleisteten Arbeit.

Welche Vor- und Nachteile haben Coworking Spaces gegenüber dem Homeoffice?

Aus unserer Sicht fördern Coworking Spaces vor allem die soziale Interaktion und Networking. Das Arbeiten findet in einem sozialen Umfeld statt und nicht isoliert im Homeoffice. Bei Workshops, Veranstaltungen, Vorträgen, aber auch in der Kaffeeküche lernt man andere Menschen kennen. Der Austausch kann neue Motivation und Inspiration für die eigene Arbeit bringen.

Zudem bieten Coworking Spaces Flexibilität. Der Platz kann nach Bedarf gebucht werden und so kann flexibel entschieden werden, wie oft jemand kommen möchte und welche Arbeitsbereiche genutzt werden. Häufig können auch Konferenzräume für Kundengespräche angemietet werden.

Außerdem bieten viele Coworking Spaces eine professionelle Arbeitsumgebung. Oft gibt es große Bildschirme, schnelles Internet, leistungsfähige Drucker, Getränkeflatrates und vieles mehr. Darüber hinaus kann es sein, dass Beschäftigte in Coworking-Spaces produktiver arbeiten, weil sie motiviert sind, zu sehen, wie andere arbeiten, und weil sie nicht durch häusliche Pflichten abgelenkt werden.

Die Nachteile von Coworking Spaces gegenüber dem Homeoffice sind aus unserer Sicht gering. Ein möglicher Nachteil können die zusätzlichen Kosten für den Arbeitsplatz und eventuelle Fahrtkosten sein.

Störend können auch mögliche Ablenkungen durch Gespräche oder Geräusche anderer Coworker sein. Je nach Auslastung und Gestaltung des Raums kann es auch mal laut werden.

Ob man in einem Coworking Space produktiver oder weniger produktiv als im Homeoffice arbeiten kann, hängt immer von der individuellen Präferenz und Arbeitsweise ab.

Wie sorgt man für gute Zusammenarbeit, wenn man nicht in einem Büro zusammensitzt?

Arbeiten Kollegen nicht in Präsenz, können sie nicht gemeinsam Notizen an einem Whiteboard machen, wegen einer Frage im Büro des anderen vorbeischauen oder Meetings in Konferenzräumen abhalten. Auch für verteilte Teams gibt es Möglichkeiten, produktiv und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Kollaborative Tools und ein gut gefüllter agiler Werkzeugkasten können dabei helfen.

Kollaborative Tools

Es gibt verschiedene Tools, die eine dezentrale Zusammenarbeit unterstützen. Damit unser Team bei Me & Company im Homeoffice, Coworking Space oder aus der Workation heraus arbeiten können, haben wir Asana, Slack, Confluence und Microsoft Teams zu unseren Standard-Tools gemacht.

  • Slack ist ein Tool für die Kommunikation in Echtzeit. Für jedes Thema oder Projekt kann man bei Slack einen eigenen Kanal aufmachen. So wird alles Relevante im entsprechenden Kanal gepostet, die Beteiligten werden informiert und können interagieren. Es ist auch möglich, mit Einzelpersonen oder Gruppen per Direktnachricht zu chatten. Das ist viel schneller und einfacher, als immer wieder E-Mails zu schreiben.
  • Mural ist ein digitales Whiteboard-Tool. Hier können Teams Ideen, Erkenntnisse und Prozesse für alle visuell festgehalten. Es kann auch für Workshops und Kollaboration genutzt werden.
  • Confluence dient als zentrale Informations- und Dokumentationsplattform. Hier können Teams Wissen austauschen, Dokumente erstellen und gemeinsam bearbeiten.
  • Microsoft Teams ist eine Kommunikationsplattform. Das Videokonferenzsystem ermöglicht Audio- und Videogespräche. Diese können sowohl von Einzelpersonen als auch von Gruppen geführt werden.
Agiler Werkzeugkoffer

Agile Frameworks und Methoden können eine große Hilfe sein, wenn es um die Zusammenarbeit von verteilten Teams geht. Ein tiefes Verständnis der agilen Werte (Anpassungsfähigkeit, Kundenzentrierung, Verbundenheit und Wirkungsfähigkeit) ist von grundlegender Bedeutung. Bevor die Teams tief in agile Prozesse eintauchen, sollten sie sich mit diesen Werten vertraut machen und sicherstellen, dass sie in ihrer täglichen Arbeit verankert sind.

Eine Möglichkeit, sich mit der agilen Arbeitsweise vertraut zu machen und sie sinnvoll einzusetzen, ist eine Ausbildung zum Agile Coach. Ein gut ausgebildeter Agile Coach ist oft der Schlüssel zum Erfolg von agilen Teams. Mit seinem Fachwissen über verschiedene agile Frameworks und Methoden hilft er dem Team, wirkungsfähiger, anpassungsfähiger, verbundener und kundenzentrierter zu werden. Der Coach agiert nicht nur als Wissensvermittler, sondern auch zum Beispiel als Moderator. Es ist nicht nur wichtig, die Werkzeuge und Techniken des agilen Arbeitens zu kennen, sondern auch zu wissen, wie man sie am effektivsten einsetzt.

Möchte man eher inhaltlich arbeiten und Verantwortungen für Produkte oder Lösungen übernehmen, kann die Ausbildung zum Product Owner ein möglicher Weg sein. In dieser Rolle definiert man den Zweck einer Lösung, die Zielgruppe und und die Prioritäten zur (Weiter-)Entwicklung. Product Owner verantworten, dass die Entwicklungen eines Teams möglichst großen Mehrwert für die Nutzer der jeweiligen Lösung und ebenso für das Unternehmen liefern.

Das Team von Me and Company

Das Team von Me and Company

Welche Tipps habt ihr für Coworker in Hinblick auf Selbstorganisation?

In einem dynamischen Umfeld wie einem Coworking Space ist Selbstorganisation eine wichtige Schlüsselkompetenz. Im Arbeitsalltag verliert man oft die strategischen Prioritäten aus den Augen, verfällt in Multitasking oder verliert den Fokus. Unsere Top-Drei Tipps zur Vorbeugung:

Strategische Prioritäten definieren

Als Selbständiger sollte man sich mindestens einmal im Jahr Zeit nehmen, um die eigenen Prioritäten festzulegen. Für Angestellte sollten die strategischen Prioritäten mit den Kollegen ausgearbeitet werden, damit man gute Leitplanken in der Selbstorganisation hat. Dazu sollten die strategischen Ziele und die dazugehörigen Barrieren definiert werden. Die Ziele sollten immer ehrgeizig, aber realistisch sein. Folgende Fragen können helfen, die relevanten Punkte zu finden

  • Ziel: Wie sieht meine Welt in einem Jahr aus, wenn ich erfolgreich gearbeitet habe?
  • Barriere: Was hindert mich aktuell daran, dieses Ziel zu erreichen?

Um diese Antworten nun zu priorisieren, können die Ziele und Barrieren nach zwei Kriterien auf einer Skala von 1 bis 5 bewertet werden:

  • Wie groß ist der potenziell positive Effekt für die Zukunft meiner Kunden oder für mich selbst, wenn ich das Ziel erreiche? (1 = kleiner Effekt / 5 = großer Effekt)
  • Wie groß ist der Aufwand und das Risiko zu scheitern, wenn ich das Ziel umsetzen möchte? (1 = hoher Aufwand und Risiko / 5 = niedriger Aufwand und Risiko)

Je höher beide Werte, desto größer sollte die Priorität sein. Pro Teammitglied sollten maximal zwei bis drei strategische Prioritäten definiert werden. Sind diese jeweiligen Ziele erreicht, wiederholt man den Prozess.

Fokus auf das Wichtige lenken

Damit man fokussiert arbeiten kann, muss man jede Aufgabe und vor allem neue Anfragen hinterfragen. Es muss klar sein, ob die eingesetzte Zeit gut investiert ist. Sinnvolle Aufgaben fallen in der Regel in eine der drei folgenden Kategorien:

  • Hygiene-Aufgaben: Rechnungen stellen und zahlen, Buchhaltung oder Arbeitsmaterial kaufen
  • Strategische Aufgaben: Aufträge und ggf. Wachstum sicherstellen, Prozesse entwickeln und automatisieren, Lösungen für Probleme finden
  • Operative Aufgaben: Bezahlte Dienstleistungen erbringen, Waren einkaufen und verkaufen

Um einen Abgleich zu machen, helfen folgende Impulsfragen:

  • Hygiene-Aufgaben: Muss die Aufgabe erledigt werden, um auch in Zukunft weiterarbeiten zu können?
  • Strategische Aufgaben: Zahlt die Aufgabe auf eine strategische Priorität ein?
  • Operative Aufgaben: Führt die Aufgabe direkt oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Gewinn?

Trifft keines dieser Kriterien zu, ist die Aufgabe wahrscheinlich nicht wichtig. In diesem Fall sollte man genauer hinschauen. Speziell in einem kleinen Team oder als Solopreneure sollten Sie zu solchen Aufgaben „Nein“ sagen. Sie kosten nur Zeit und liefern keinen nachhaltigen Wert.

Parallelarbeit eingrenzen

Anrufe, E-Mails oder kleine Sonderwünsche und Gefälligkeiten: Ablenkungen gibt es überall. Prokrastinationschlägt Flow-Zustand und damit ist wertvolle Zeit schnell verschwendet. Um in einen effektiven Arbeitszustand zu gelangen, helfen zwei Maßnahmen:

  1. Fokuszeit einrichten: In diesen Zeitfenstern von ein bis zwei Stunden werden Mobiltelefone, E-Mail-Programme und alle Messenger ausgeschaltet. Ziel ist es, dass man sich auf eine Aufgabe konzentriert und nicht ablenken lässt – auch wenn es manchmal sehr verlockend ist.
  2. “Work in Progress” limitieren: Jeder Wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben, Projekten und Aktivitäten kostet Zeit und Kraft. Man muss sich neu sammeln, einen Einstieg in die Aufgabe finden und sich motivieren, die ersten Schritte zu gehen. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Anzahl der parallel „erlaubten“ Aufgaben zu begrenzen. Man zwingt sich dazu, erst eine Aufgabe abzuschließen, bevor man eine neue beginnt. Damit dies einen realistischen Rahmen hat, darf man zwischen einigen Aufgaben springen. Die Anzahl ist individuell, sollte in der Regel bei 2 bis 4 liegen.

Mit Aufgaben sind hier Aktivitäten gemeint, die zwischen zwei Stunden und zwei Tagen liegen. Eine einzelne E-Mail zu beantworten, ist also zu klein. Stattdessen kann man Mails sammeln und im Block über einige Stunden abarbeiten. Während dieser Zeit sollte man nicht zusätzlich Termine einplanen oder andere Ablenkungen erlauben.

Welche Tipps gebt Ihr Führungskräften, damit sie sichergehen können, dass Kollegen im Coworking Space gut arbeiten können?

Als Führungskraft kann es eine Herausforderung sein, die dezentrale Zusammenarbeit erfolgreich zu gestalten. Man trifft die Mitarbeiter nicht mehr täglich am Arbeitsplatz oder tauscht sich in der Kaffeepause oder beim gemeinsamen Mittagessen über Privates oder Geschäftliches aus. Es ist nicht möglich, mal eben an den Arbeitsplatz einer Kollegin oder eines Kollegen zu gehen und eine Frage zu stellen. Damit die Arbeit im Coworking Space vertrauensvoll sein kann, haben wir folgende Tipps für euch:

Transparenz der Arbeit fördern

Ein transparentes Aufgabensystem ermöglicht Führungskräften und Fachexperten im Coworking Space, einen Überblick über den Arbeitsablauf und die Arbeitsaufgaben zu behalten. Um die Kommunikation zu verbessern, empfiehlt es sich, tägliche kurze Besprechungen (z.B. Daily Stand-Ups) zu etablieren, in denen Teammitglieder Themen einbringen können, die das Team betreffen. Einmal wöchentlich kann es sinnvoll sein, ein Teammeeting zu etablieren, in dem jedes Teammitglied vorstellt, was diese Woche ansteht, wie sich die Person einbringen kann und einen Überblick über die eigenen Kapazitäten gibt. Frameworks wie Kanban und Scrum können hier Transparenz in den Arbeitsprozess bringen. Tools wie Asana helfen, diese Meetings und Prozesse zu organisieren.

Teambuilding im virtuellen Raum und soziale Interaktion

In einem verteilten Team ist es wichtig, die soziale Interaktion und den Teamzusammenhalt zu fördern. Durch virtuelle Kaffeepausen oder gelegentliche Teamevents kann das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt werden. Je nach Gelegenheit sind natürlich auch Teamevents in Präsenz immer eine gute Idee.

Fördern der Selbstführung

Führungskräfte sollten Entscheidungen gemeinsam mit ihrem Team treffen und so eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen. Teammitglieder sollten sich sicher fühlen, Fragen zu stellen, Feedback zu geben, Ideen einzubringen und bei Bedarf um Hilfe zu bitten. Führungskräfte sollten ausreichend Freiraum für Aufgaben geben und nicht fortlaufend kontrollieren und genehmigen. Natürlich gibt es Aufgaben, bei denen ein Vier-Augen-Check hilfreich ist, aber sie sollten ihren Teammitgliedern bei der Ausführung ihrer Aufgaben möglichst vertrauen.

Fazit

Die Arbeitswelt hat sich gewandelt und neue Formen der Zusammenarbeit sind entstanden. Insbesondere Coworking Spaces bieten sowohl Selbstständigen als auch Angestellten eine interessante Alternative zum Homeoffice. Hervorzuheben ist, dass Coworking Spaces soziales und flexibles Arbeiten ermöglichen. Die dezentrale Zusammenarbeit kann durch kollaborative Tools sowie verschiedene agile Methoden und Frameworks verbessert werden. Selbstorganisation ist eine zentrale Schlüsselkompetenz und sollte im Coworking Space gefördert werden. Damit sowohl Coworker als auch Führungskräfte produktiv zusammenarbeiten können, ist es sinnvoll, transparentes Arbeiten, Teambuilding im virtuellen Raum und Selbstführung zu fördern.

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