Im Mai 2015 beschloss die Digitale Nomadin Leonie Müller, nicht länger an nur einem Ort leben zu wollen. Sie beschloss, ein einjähriges Experiment zu starten: sie kündigte ihre Wohnung und kaufte sich eine BahnCard 100. Tagsüber im Zug, im Café oder im Coworking-Space, nachts bei Freunden und Familie auf der Couch – das alles ist Teil des Experiments.
In ihrem Buch „Tausche Wohnung gegen BahnCard“ schreibt sie über die Erlebnisse und die Erkenntnisse, die sie während ihres Experiments gesammelt hat.

Wir haben mit Leonie Müller über ihr Leben ohne Wohnung, ihre Erfahrungen mit New Work und Coworking-Spaces sowie über ihr Buch gesprochen.

Was hat dich am meisten daran gereizt, deinen festen Wohnsitz aufzugeben und einfach immer im Zug unterwegs zu sein?

Mich hat gereizt, herauszufinden, wie sehr das Freiheitsgefühl, das ich von meiner Weltreise vor dem Studium kannte, auf mein Alltagsleben als Studentin übertragbar ist. Bei meiner neunmonatigen Rucksackreise habe ich oft gehört  „Toll, dass du so lange reisen kannst, so frei bist du ja auch nie wieder.“ Das ist natürlich nichts, was man mit 20 – oder in einem anderen Alter – gerne hört, und in meiner rebellischen Art habe ich das automatisch hinterfragt. Als ich dann in der Mitte meines Bachelorstudiums eine Auseinandersetzung mit meiner Vermieterin hatte, war die Idee geboren, das Abenteuer in den Alltag holen zu wollen.

Was war das prägendste Erlebnis, das du während dieser Zeit gemacht hast?

Es war kein einzelnes Erlebnis, was mich am meisten geprägt hat, sondern die vielen Impressionen, die meine Perspektive auf ein “normales” Leben und das Thema Freiheit verändert haben. Uns im Urlaub frei zu fühlen, ist keine Schwierigkeit – viel spannender und für mich relevanter ist es, wie wir unseren Alltag so gestalten können, dass er mehr unseren Bedürfnissen entspricht und das Grad an Freiheit und Abwechslung bietet, das wir wollen und brauchen. Dass das möglich ist, habe in ich den letzten Jahren eindrücklich erlebt und bin sehr dankbar dafür.

Du beschäftigst dich ja auch mit New Work. Eine Form davon ist Coworking. Hast du selbst Erfahrungen damit gemacht? Wie sahen diese aus?

Da ich an vielen verschiedenen Orten unterwegs bin, war ich bisher noch nie festes Mitglied in einem bestimmten Coworking-Space und nutze üblicherweise Tageskarten. Ansonsten arbeite ich überall da, wo es möglich ist, im Zug, in den DB-Lounges, in Cafés. Dort entstehen auch manchmal interessante Gespräche mit den anderen mobilen Arbeitern. Diese werden natürlich in Coworking-Spaces durch die dortige Community und regelmäßige Treffen intensiver gefördert, was für mich auch einen großen Mehrwert der Spaces darstellt. 

Was glaubst du, wie Coworking und Coworking-Spaces zum Thema Digitales Nomadentum passen?

Digitales Nomadentum dreht sich um ortsunabhängiges Arbeiten und ist damit eine erweiterte Form des mobilen Arbeitsstils, den viele von uns mit Homeoffice und Dienstreisen im Alltag bereits leben. Oft denken wir an Reisende, die auf Bali am Strand mit ihrem Laptop sitzen, was natürlich kein realistisches Bild ist. Letztendlich haben digitale Nomaden die gleiche Herausforderung wie wir alle: Sie brauchen WLAN, einen angenehmen Platz zum Arbeiten und den Austausch mit Anderen. Coworking-Spaces sind überall auf der Welt verlässliche Orte, die diese Anforderungen erfüllen.

Denkst du, dass Coworking nur in der (Groß-)Stadt funktioniert?

Überhaupt nicht. In der Großstadt treffen sich die Menschen sowieso – die ersten Coworking-Spaces sind ja aus Cafés entstanden, die Pariser Salons und Wiener Kaffeehäuser kann man als historische Vorbilder sehen. Ich sehe den wirklichen Mehrwert von Coworking-Initiativen tatsächlich im ländlichen Raum – viele der Menschen, die dort wohnen, investieren viel Zeit, Geld und Nerven ins Pendeln zu ihren Arbeitsplätzen in den Städten. Mit Coworking lassen sich diese Kosten verringern, neue Kontakte knüpfen und die Wirtschaft vor Ort auf dem Land kann dadurch gestärkt werden. Nicht zu unterschätzen ist auch der Wert für die Gemeinschaft, wenn Menschen aus umliegenden Dörfern sich kennenlernen und neue Projekte starten. Auch für junge Menschen und Familie hat das Landleben viele Vorteile, und Coworking-Spaces helfen, den großen Nachteil des Pendels zu minimieren.

Welche Dinge hast du immer bei dir, wenn du unterwegs bist?

So wenig wie möglich und so viel wie nötig: Meine digitalen Arbeitsgeräte, Noise Cancelling-Kopfhörer, ein Notizbuch und wenige Unterlagen, meinen Kulturbeutel und Ersatzkleidung.

Dein Buch hast du über die Zeit deiner Monate im Zug geschrieben. Wie sieht dein Leben im Moment aus? Lebst du immer noch „unterwegs“, oder hast du inzwischen wieder eine feste Wohnung?

Über die letzten fünf Jahre hat sich mein mobiler Lebensstil immer weiter entwickelt, zwischendrin hatte ich ein WG-Zimmer in Köln und habe in Leipzig meinen Master studiert. Gerade habe ich keine eigene Wohnung, meine Homebase bei meinem Partner und bin weiterhin privat wie beruflich als selbstständige Unternehmensberaterin und Rednerin überall unterwegs. Ich werde spannenderweise oft gefragt, ob ich wieder sesshaft geworden sei – ich frage mich dann immer, was ist Sesshaftigkeit in unserer heutigen Gesellschaft? An einem normalen Tag – ohne Corona-Pandemie – legen wir Deutschen über drei Milliarden Kilometer zurück, wir pendeln, gehen einkaufen, fahren zu Freizeitaktivitäten, ziehen um, fahren in den Urlaub, wandern aus. Wir mögen sesshaft wohnen, aber leben tun wir schon lange ein multilokales Leben. Und die Coworking-Bewegung ist sowohl eine logische Konsequenz aus diesem Umstand als auch ein Mehrwert für unsere multilokale, mobile Gesellschaft.

Foto: Marvin Ruppert