„Man kann als Mensch ganz viel tun. Aber oft traut man sich nicht. Wenn man sich aber damit beschäftigt, dann wird das normal“, erzählt Stefanie Trzecinski. Sie leitet den Coworking-Space TUECHTIG in Berlin. Es ist der erste inklusive Coworking-Space Deutschlands. Die Räume sind komplett barrierefrei. Trotzdem ist das TUECHTIG nicht allein auf Menschen mit Behinderung ausgelegt, sondern empfängt jeden Coworker, der gerne zu der Gemeinschaft dazugehören möchte. Aktuell sind das ca. 20 Menschen, wobei etwa die Hälfte von ihnen körperlich eingeschränkt ist. Diese Mischung ist sehr wichtig, erklärt Stefanie. „Spannend wird Inklusion, wenn man sich trifft und austauscht und ‚Anderssein’ normal wird. Denn dann wird Inklusion gedacht, ohne darauf aufmerksam machen zu müssen.“ Dieses „Anderssein“ zum Alltag werden lassen, um eventuelle gegenseitige Scheu und Unsicherheit zu nehmen – das ist eins der Ziele, das die Gründerin mit ihrem Coworking-Space verfolgt. 

Angefangen hat alles mit der KOPF, HAND + FUSS gGmbH, die Stefanie 2010 gegründet hat und die besonders auf mediale Projekte für Menschen mit Behinderung ausgerichtet ist. „Die Experten – also die Betroffenen – waren bei der Entwicklung immer von Anfang an mit dabei“, erzählt sie. „Dabei habe ich viele Leute kennengelernt, die aufgrund ihrer Handicaps keine Möglichkeit haben, irgendwo vernünftig zu arbeiten.“ Daraus entstand 2017 der Coworking-Space TUECHTIG, in dem Personen mit Behinderung genau das geboten werden soll: arbeiten können ohne Einschränkungen. Von der Idee für einen inklusiven Coworking-Space bis zur Umsetzung war es allerdings kein leichter Weg. „Wir haben vier Jahre nach einer passenden Location gesucht. Es war schwierig, geeignete Räume zu finden. Sie müssen barrierefrei sein, der Anschluss an den ÖPNV muss gut und die Miete darf nicht zu hoch sein. Das war nicht einfach.“ 

Im TUECHTIG gibt es drei Ebenen, auf denen man versucht, die Inklusion zu leben: Barrierefreiheit, besonderes Mobiliar und Assistenzleistungen.
Zur Barrierefreiheit gehören grundlegende Dinge wie Türrahmen, die breit genug sind, damit auch Rollstühle hindurch passen. Türschwellen gibt es keine. Außerdem wurden spezielle Türgriffe entwickelt, die es kleinwüchsigen Menschen erleichtern, Türen zu öffnen und zu schließen.
Zu den Möbeln gehört zum Beispiel der sogenannte konFAIRenztisch. Dieser Tisch hat drei verschiedene Höhen, die aber alle miteinander verbunden sind. Er hat keine Tischbeine, damit Menschen mit Sehschwäche nicht stolpern oder sich stoßen können. Ebenso dient Sehbehinderten die Farbe des Tisches, von der sich Unterlagen farblich gut abheben, so dass sie leichter zu erkennen sind. Auf die Idee der Space-Gründerin hin wurde dieser Tisch gemeinsam mit Betroffenen entwickelt. Aber es gibt noch viele weitere Features im TUECHTIG, zum Beispiel spezielle Tastmodelle, die es sehbehinderten Menschen ermöglichen, sich durch ein Ertasten des Modells im Space zurechtzufinden.
Die Assistenzleistungen sind ebenfalls breit gefächert. Manchmal geht es darum, jemandem eine Webseite vorzulesen, in anderen Fällen benötigt jemand Hilfe bei der deutschen Sprache. Dabei ist das Ziel nicht der Einsatz von speziellen Hilfskräften, sondern die Hilfe untereinander. „Wenn jemand Bedarf an so einem Hilfsangebot hat, muss er normalerweise sehr gut organisiert sein“, erklärt Stefanie. „Aber bei uns helfen sich die Coworker untereinander. Es geht darum, Menschen an die Hand zu nehmen und zu unterstützen.“

konFAIRenztisch

Der konFAIRenztisch im TUECHTIG

Dieses gegenseitige An-die-Hand-nehmen funktioniert im TUECHTIG sehr gut, berichtet sie. „Unsere Coworker sind da alle sehr aufmerksam. Wir haben einen Coworker mit einer Spastik und wenn er morgens in den Space kommt und Hilfe beim Ausziehen seiner Jacke braucht, dann müssen wir nicht extra jedes Mal danach schauen, sondern es kommt jemand, der gerade da ist und hilft ihm. Das ist inzwischen für alle selbstverständlich geworden und etwas ganz Normales.“
Dass diese Gemeinschaft so fest zusammengewachsen ist, hat aber auch damit zu tun, dass es im TUECHTIG keine Einzelbüros gibt. „Coworken ist bei uns das Thema“, betont die Gründerin. „Wir sind eine Art große Bürogemeinschaft. Es ist nicht jeder für sich. Das ist bei uns Alltag und das ist wichtig für unsere Gemeinschaft.“ In den Anfangszeiten des TUECHTIG gab es für mehr Kooperation noch ein regelmäßiges Member-Frühstück, doch dieses wurde irgendwann überflüssig. „Die Coworker sind sowieso die ganze Zeit im Austausch und machen viel gemeinsam. Daher brauchten wir so Dinge wie ein extra Frühstück gar nicht.“

Sitzecke TUECHTIG

Doch kann ein Coworking-Space wie das TUECHTIG überall funktionieren? Stefanie glaubt, dass der richtige Schritt nicht die Eröffnung neuer inklusiver Coworking-Spaces ist. „Coworking-Spaces, die existieren, müssten ‚ertuechtigt‘ werden. Es ist nicht schwer, inklusiv zu arbeiten. Das Problem liegt in den Köpfen. Das, was wir hier in Berlin haben, müsste eigentlich normal sein.“ Und normal werden kann Inklusion nur, wenn man sich viel damit beschäftigt, findet sie.
Bereits jetzt arbeitet das TUECHTIG mit anderen Spaces wie dem St. Oberholz und dem juggleHUB zusammen.
Doch auch ihr eigener Space ist noch lange nicht fertig. Als nächstes Projekt steht die Planung eines Gartens an. Außerdem will man die Themen Depressionen und generell psychische Erkrankungen mehr vorantreiben. Immer im Fokus steht bei allen Entwicklungen die enge Zusammenarbeit mit Betroffenen.
„Wir machen schon viel, aber es wird noch mehr werden. Und das ist das Wichtige, dass wir uns hier weiterentwickeln können, indem uns die betroffenen Personen dabei unterstützen.“

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